BESTER DOKUMENTARFILM
Gelebte Aufarbeitung
Heike Bachelier: Feindberührung. Dokumentarfilm (ZDF)
ZDF (Das kleine Fernsehspiel) Mo 3.10. 0.20 bis 1.50 Uhr
Filmische Reflexionen der Stasi-Spitzelei gibt es eigentlich in Hülle und Fülle, der deutsche Kinofilm „Das Leben der Anderen“ wurde für die Aufarbeitung dieses Sujets sogar mit dem Oscar ausgezeichnet. Doch Heike Bachelier schlägt hier, methodisch und inhaltlich, ein neues Kapitel auf. In ihrem bemerkenswerten Dokumentarfilm „Feindberührung“, der im Auftrag der ZDF-Redaktion „Das kleine Fernsehspiel“ entstand, führt die Regisseurin das Opfer einer solchen Bespitzelung und einen ehemaligen „Inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM) der früheren DDR-Staatssicherheit an einem Tisch zusammen. Der Film ist über weite Strecken eine Art Kammerspiel. Anhand der vorliegenden Stasi-Akten spielen die Beteiligen ihre jeweiligen Rollen noch einmal detailgenau durch – und das hat es wirklich in sich.
Wer sind die beiden Protagonisten? Peter Wulkau fällt in der DDR als Student auf durch seine zu intelligenten und zu kritischen Fragen. Die Obrigkeit exmatrikuliert ihn unter einem fadenscheinigen Grund, worauf der intellektuell Unterforderte nur noch niedere Jobs verrichten darf. In einem evangelischen Zentrum gründet er eine marxistische Lektüregruppe, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. All seine Bemühungen, doch noch eine Tätigkeit ausüben zu können, die ihn geistig fordert, werden wie von Geisterhand sabotiert. Mit einer Mischung aus Naivität und Verzweiflung schreibt er sogar einen Beschwerdebrief an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker.
„Der Wulkau“, wie er in der bürokratischen Ausdrucksweise der Stasi-Akten genannt wird, ahnt nicht, dass man ihn schon seit geraumer Zeit minutiös bespitzelt. Hartmut Rosinger, ein mediokrer Geist, der an die DDR und deren sozialistische Einheitswahrheit glaubt, fühlt sich zunächst geschmeichelt, dass man an ihn herantritt, um den mutmaßlichen Störenfried, den Staatsfeind Wulkau, auszukundschaften. Es kommt so, wie es in der DDR unzählige Male geschah: Rosinger nutzt die intime Bekanntschaft zu seiner Zielperson aus, um deren subversives Gedankengut brühwarm an die Genossen weiterzuleiten. Stein des Anstoßes ist ein heimlich verfasster Roman, in dem Wulkau den blinden Glauben an den Sozialismus unter anderem mit einem parodistischen „Vaterunser“ verhöhnt: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von den Zweiflern. Denn Dein ist das Geld, die Armee und die Presse...“
Während des Zusehens beschleicht den Zuschauer immer wieder ein merkwürdiges Gefühl. Hartmut Rosinger bekennt sich zwar mehr oder weniger reumütig zu der heimtückischen Denunziation seines Opfers. Doch während er bereitwillig über die Interna des Stasi- Apparats berichtet, entsteht zuweilen der Eindruck, als redete er nicht über sich selbst und seine Taten, sondern über einen anderen Menschen. Erst als die Filmemacherin mit den beiden in jenes Gefängnis geht, in dem Wulkau dank Rosingers Verrat lange Zeit verbringen musste, zeichnet sich bei dem ehemaligen IM deutlich erkennbar ein Prozess der Bewusstwerdung ab.
Es sind aber nicht so sehr diese großen Gesten, die diesen (spät in der Nacht ausgestrahlten) Film so sehenswert machen, sondern die präzise Schilderung jener grauen Alltäglichkeit, die es bei der Bespitzelung ja auch gibt. Hier bleibt vor allem eine Szene in Erinnerung. Wulkau, durch die DDR-Obrigkeit ohnehin kaltgestellt, bleibt nichts anderes übrig, als in einem Café als Kellner zu arbeiten. Doch welche brisanten Neuigkeiten kann ein IM seinen neugierigen Vorgesetzten schon über einen Servierer anbieten? Als Rosinger hierzu einen jener Sätze aus den Stasi-Berichten vorliest, die seine Unterschrift tragen, stockt ihm der Atem. Das kann doch nicht sein! Habe ich wirklich geschrieben, ich traue Wulkau zu, dass dieser auch „an Gruppensex teilnehmen könnte“? Wie kommt es zu einer solchen aus der Luft gegriffenen Behauptung?
Spannend an dem Film ist, dass Wulkau und Rosinger unter anderem bei dieser Passage die Lektüre der Akten unterbrechen und ihre Erinnerungen austauschen. So kommt ans Licht, dass in dem Café natürlich auch Frauen zu Gast waren, und möglicherweise hat Wulkau sich mit ihnen nicht schlecht verstanden. Diese Beobachtung beflügelte offenbar die Phantasie des Spitzels in einer Art und Weise, die es ihm dann ermöglichte, seine im Grunde genommen nichtssagende Betrachtung mit einer moralischen Herabwürdigung zu verbinden.
Der Film (210 000 Zuschauer, Marktanteil: 3,9 Prozent) zeigt hier eine Art gelebter Aufarbeitung der Vergangenheit. Was die Regisseurin dabei einfängt, ist jedoch mehr als nur die Worte, die zwischen Opfer und Täter gewechselt werden. Indirekt stellt sie die Frage, was die beiden überhaupt motiviert, sich nach 30 Jahren gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Betrachtet man den Film aus einer gewissen Distanz, so hat es den Anschein, als wären Peter Wulkau und Hartmut Rosinger mit einem unsichtbaren Band aneinander gefesselt. Die selbstverständliche Bereitschaft, mit der Opfer und Täter noch einmal die schmerzliche Vergangenheit durchleben – und sei es auch nur verbal –, erweckt beim Zuschauer den Eindruck, als gäbe es da zwischen den beiden eine unaussprechliche Form von ‘Sehnsucht’. Das Verhältnis zwischen diesen beiden auf unterschiedliche Weise traumatisierten Menschen erinnert an eine Variante des Stockholm-Syndroms. Dieses extrem problematische Gebiet nachhaltiger seelischer Verletzungen hat die Regisseurin behutsam betreten. Ihr Film – der mittels heimlicher Blicke durch vergilbte Vorhänge auch eine Zeitreise in die frühere DDR fingiert – liefert einigen Stoff zum Nachdenken.
14.10.11 - Manfred Riepe, Funkkorrespondenz